TEIL DREI
15
Nichts ergab einen Sinn. Jacks Leiche war im Spassky Grain Building gefunden worden, einer Baustelle in Tribeca an der Ecke Greenwich und North Moore, deren Bauträger vor kurzem unter Beschuß durch die Gewerkschaften gestanden hatte, weil dort Streikbrecher beschäftigt worden waren. Der Bauplatz lag fünfzehn Gehminuten von Jacks Wohnung in der Hudson Street entfernt, und er war anscheinend in aller Ruhe zu Fuß mit einer geladenen Schrotflinte in der Hand dorthin gegangen, hatte die Canal Street - die trotz vorgerückter Stunde noch belebt war - überquert, ohne Aufmerksamkeit erregt zu haben, war dann in den Rohbau eingedrungen, mit dem Lift zum dritten Stock hinaufgefahren, hatte an einem Westfenster mit guter Aussicht auf den mondbeschienenen Fluß Aufstellung genommen, sich den Lauf in den Mund gesteckt, den Abzug betätigt und war auf den nackten, unfertigen Boden gestürzt, wobei er die Waffe fallen ließ, den Abschiedsbrief jedoch irgendwie festhalten konnte. Er hatte schwer getrunken: Jack Daniels und Coke, ein absurdes Getränk für einen Weinliebhaber wie Rhinehart. Als er gefunden wurde, lagen Anzug und Hemd sauber gefaltet auf dem Boden, und er trug nur noch Socken und Unterhose, die er aus irgendeinem Grund mit der Hinterseite nach vorn angezogen haben mußte. Er hatte sich erst kurz zuvor noch die Zähne geputzt.
Neela beschloß, reinen Tisch zu machen, und erzählte den Detectives alles, was sie wußte - über die Maskenkostüme in Jacks Kleiderschrank, ihre Vermutungen, alles. Da das Zurückhalten von Informationen eine schwere Straftat war, hätte sie dadurch in Schwierigkeiten kommen können, aber die Polizei versuchte einen dickeren Fisch zu fangen, und außerdem hatten die beiden Beamten, die sie in ihrer Wohnung in der Bedford Street aufsuchten, um sie und Malik Solanka zu vernehmen, in ihrer Gegenwart genug mit ihren eigenen Problemen zu tun. Immer wieder brach ihnen der Bleistift ab, traten sie einander auf die Füße, stießen sie Gegenstände um, redeten sie gleichzeitig drauflos, um dann sofort zu erröten und zu verstummen, was Neela jedoch nicht beachtete. »Tatsache ist«, schloß sie, während die Detectives eifrig zustimmend nickten, »daß dieser sogenannte Selbstmord stinkt.«
Malik und Neela hatten gewußt, daß Jack eine Waffe besaß, hatten sie aber noch nie gesehen. Sie stammte aus der schwarzen Hemingway-Jagd-und-Angel-Periode, die seiner Tiger-Woods-Phase vorausgegangen war. Jetzt war Jack, genau wie der arme Ernest, der femininste aller großen männlichen amerikanischen Schriftsteller, der an seiner Unfähigkeit, den starken Macho-Papa zu heucheln, zugrunde gegangen war, auf die Jagd nach sich selbst gegangen, der größten Beute von allen. Wenigstens versuchte man ihnen das einzureden. Bei näherem Hinsehen jedoch wurde diese Version der Ereignisse immer weniger überzeugend. Jacks Wohnhaus hatte einen Portier, der gesehen hatte, daß er gegen sieben Uhr abends das Gebäude verließ, ohne etwas bei sich zu führen und im Abendanzug. Ein zweiter Zeuge, eine rundliche junge Frau mit Baskenmütze, die auf dem Bürgersteig auf ein Taxi wartete, meldete sich auf einen Aufruf der Polizei und erklärte, sie habe gesehen, daß ein Mann, auf den Jacks Beschreibung paßte, in einen großen schwarzen 4x4 mit abgedunkelten Scheiben stieg; durch die offene Tür hatte sie flüchtig mindestens zwei weitere Männer mit, und dessen war sie sich sehr sicher, dicken Zigarren im Mund gesehen. Ein identischer 4x4 wurde kurz nach der festgestellten Todeszeit auf der Greenwich Street gesichtet. Ein paar Tage später ergab die Analyse der technischen Daten dessen, was inzwischen bereits als Tatort bezeichnet wurde, daß die Beschädigung der provisorischen Tür des Spassky Grain Building nicht durch Rhineharts Schrotflinte erfolgt war. Und weder an seiner Leiche noch irgendwo in der Nähe war ein Utensil gefunden worden, mit dem die äußerst massive Tür - Holz, mit metallverstärktem Rahmen - aufzubrechen gewesen wäre. Darüber hinaus bestand der starke Verdacht, daß der Schaden an der Tür nicht von dem Versuch stammen konnte, sich Zutritt zu der Baustelle zu verschaffen. Irgend jemand mußte einen Schlüssel besitzen.
Der Selbstmordbrief selbst war ein Beweis für Jacks Unschuld. Rhinehart war berühmt für seinen äußerst präzisen Schreibstil. Syntax-Schnitzer machte er selten, und nie, niemals unterlief ihm ein Rechtschreibfehler. Hier, in seinen letzten Worten, gab es jedoch schlimmste Fauxpas. Seit meiner Zeit als Kriegsberichterstatter lautete der Brief, habe ich eine Neigung zu Gewalt. Manchmal zertrümere ich mitten in der Nacht das Telefon. Horse, Club und Stash sind unschuldig. Ich habe ihre Mädchen getötet, weil sie nicht mit mir ficken wollten, fielleicht weil ich ein Schwartzer bin. Und schließlich, herzzerreißend: Sagt Nila, daß ich sie liebe. Ich weiß, ich hab Scheiße gebaut, aber ich liebe sie ehrlich. Als Malik Solanka von der Polizei vernommen wurde, erklärte er ihnen nachdrücklich, daß der Brief, obwohl in Jacks kraftvoller, unverwechselbarer Handschrift geschrieben, niemals freiwillig von ihm selbst stammen könne. »Entweder hat ihn jemand diktiert, der ein weit niedrigeres Bildungsniveau besaß als Jack, oder er hat bewußt primitiv geschrieben, um uns etwas mitzuteilen. Verstehen Sie? Sogar die Namen seiner drei Mörder hat er uns mitgeteilt.«
Als festgestellt wurde, daß Keith Club Medford, letzter Beischläfer der verstorbenen Laura Klein, der Sohn des reichen Bauunternehmers und bete noir der Gewerkschaften Michael Medford war, von dessen Firmen eine mit dem Umbau des Spassky Grain Building in eine Mischung aus Luxus-Lofts und Townhouse-Stil-Residenzen beauftragt war, und daß Keith, der die Eröffnungsparty für das Projekt planen sollte, einen Satz Schlüssel besaß, stand fest, daß die Killer einen nicht wieder gutzumachenden Fehler begangen hatten. Die meisten Mörder waren dumm, und selbst ein Leben mit Privilegien bewahrte niemanden vor Torheit. Sogar die teuersten Schulen brachten ungebildete Tölpel hervor, und Marsalis, Andriessen und Medford waren halbgebildete, arrogante junge Dummköpfe. Und Mörder. Club, mit den zusammengetragenen Fakten konfrontiert, legte als erster ein Geständnis ab. Seine Kumpels brachen wenige Stunden später zusammen. Jack Rhinehart wurde mitten in Queens beerdigt, fünfunddreißig Autominuten von dem Bungalow, den er für seine Mutter und seine unverheiratete Schwester in Douglaston gekauft hatte. »Ein Haus mit Aussicht«, hatte er gescherzt. »Wenn ihr ans Ende des Gartens geht und euch ganz nach links rüberbeugt, könnt ihr gerade noch - was hören? Ein Flüstern, das Flüstern des Long Island Sound.« Jetzt würde seine eigene Aussicht auf ewig die Stadt in all ihrer Häßlichkeit sein. Neela und Solanka ließen sich von einem Taxi hinausfahren. Der Friedhof war eng, baumlos, trostlos, feucht. Fotografen schlichen um die kleine Gruppe der Trauergäste herum wie der Schmutz, der sich am Rand eines dunklen Teiches sammelt. Solanka hatte irgendwie vergessen, daß sich die Medien für Jacks Beerdigung interessieren würden. Sobald die Geständnisse gemacht worden und die Story des S&M-Clubs zum Gesellschaftsskandal des Sommers geworden waren, verlor Professor Solanka das Interesse an der öffentlichen Dimension des Ereignisses. Er trauerte um seinen Freund Jack Rhinehart, den großen, tapferen Journalisten, der sich von Glanz und Reichtum hatte korrumpieren lassen. Von dem verführt werden, was man verabscheute, war ein schweres Schicksal. Die Frau, die man liebte, an seinen besten Freund zu verlieren, war vielleicht sogar noch schwerer. Solanka war Jack kein treuer Freund gewesen, aber es war Jacks Schicksal gewesen, betrogen zu werden. Seine geheimen sexuellen Neigungen, mit denen er Neela Mahendra niemals belästigt hatte, die aber bedeuteten, daß nicht einmal Neela auf die Dauer genug für ihn war, hatten ihn in schlechte Gesellschaft gebracht. Er hatte sich Männern gegenüber loyal verhalten, die seine Loyalität nicht verdienten, hatte sich eingeredet, sie seien unschuldig - und welche Mühe mußte das einen eingefleischten Aufklärer und Enthüller gekostet haben, wieviel selbsttäuscherische Energie mußte er darauf verwendet haben! Er hatte sie sogar in Schutz genommen und wurde von ihnen zum Lohn dafür bei einem ungeschickten Versuch, einen Sündenbock zu präsentieren, auf dem Altar ihres unüberwindlichen, krankhaft selbstsüchtigen Stolzes geopfert.
Eine Gospelsängerin war engagiert worden, um zum Abschied ein Medley von Spirituals und jüngeren Songs zu singen: Fix Me, Jesus wurde gefolgt von Puff Daddys Tribut an Notorious B. I. G., Every Breath You Take (I’ll Be Missing You), dann kam Rock My Soul (In the Bosom of Abraham). Regen drohte, ließ aber auf sich warten. Die Luft war feucht, als sei sie voller Tränen. Jacks Mutter und Schwester waren da; und Bronislawa Rhinehart, die Ex-Gattin, die in ihrem kurzen schwarzen Kleid und hochmodernen Schleier zugleich melancholisch und sexy wirkte. Solanka nickte Bronnie zu, obwohl er mit ihr nie ein Gespräch hatte führen können, und murmelte leere Worte für die Hinterbliebenen. Die Rhinehart-Frauen wirkten nicht traurig; sie wirkten zornig. »Der Jack, den ich kenne«, sagte Jacks Mutter kurz, »hätte diese weißen Boys in neun Sekunden durchschaut.« »Der Jack, den ich kenne«, ergänzte seine Schwester, »hat keine Peitschen oder Ketten gebraucht, um Spaß zu haben.« Sie waren dem Mann, den sie liebten, böse wegen des Skandals, aber mehr noch, weil er sich diesen Verletzungen ausgesetzt hatte, als hätte er das getan, um ihnen weh zu tun, um sie mit dem lebenslangen Schmerz ihres Verlustes allein zu lassen. »Der Jack, den ich kenne«, sagte Solanka, »war ein sehr guter Mann, und wenn er jetzt überhaupt irgendwo ist, würde ich sagen, daß er glücklich ist, von seinen Fehlern erlöst zu sein.«Jack war natürlich dort bei ihnen. Jack in the Box, in der Schachtel, aus der er nie wieder herausspringen würde. Solanka hatte das Gefühl, als schließe sich eine harte Hand um sein Herz.
In seinem Kummer stellte Solanka sich vor, daß Jack in einer Luxus-Loftwohnung liege, während die ganze Welt über seinem Leichnam tratschte und die Fotografen herumscharwenzelten. Neben Jack lagen die drei toten Mädchen. Befreit von der Angst, in ihren Tod verwickelt zu sein, betrauerte Solanka auch sie. Hier lag Lauren, die Angst vor dem bekommen hatte, was sie anderen anzutun vermochte und was sie anderen ihr anzutun gestattete. Bindy und Sky hatten versucht, sie innerhalb ihres geheimen Zirkels der Freuden und Schmerzen zu behalten, und hatten versagt, sie aber hatte ihr Schicksal besiegelt, als sie die Clubmitglieder mit der Schande einer öffentlichen Bloßstellung bedrohte. Hier lag Bindy, die erste, die begriff, daß der Tod ihrer Freundin kein Zufallsmord war, sondern eine kaltblütige Hinrichtung: welchselbe Erkenntnis ihr eigenes Todesurteil war. Und hier lag das Uptown Girl Sky, die alles mitmachende, sexuelle Athletin Sky, die wildeste der todgeweihten Drei und die sexuell enthemmteste, deren masochistische Exzesse - inzwischen detailliert von der begeisterten Presse geschildert - zuweilen selbst ihren sadistischen Liebhaber Brad, the Horse, beunruhigten. Sky, die sich für unsterblich hielt, die glaubte, sie würden sie nie holen kommen, weil sie die Kaiserin ihrer Welt war, weil sie ihr folgten, wohin sie sie führte, und weil ihre Toleranzschwelle, ihre Hemmungslosigkeit die höchste war, die irgendeiner von ihnen jemals erlebt hatte. Sie wußte von den Morden und fühlte sich auf widernatürliche Weise von ihnen erregt, flüsterte Marsalis in die Ohren, sie denke nicht daran, so großartige Männer zu verpfeifen, und flüsterte abwechselnd Stash und Club zu, daß sie mit Freuden für ihre toten Freundinnen einspringen würde, egal, auf welche Art und Weise, sag einfach, was du willst, Baby, du kriegst es. Außerdem erklärte sie allen drei Männern, jedem einzeln bei später widerwärtig detailliert geschilderten Rendezvous, daß die Morde sie bis zum Tod zusammenschmiedeten; daß sie den Punkt, von dem es kein Zurück mehr gibt, überschritten hätten und daß der Vertrag ihrer Liebe mit dem Blut ihrer Freundinnen unterzeichnet worden sei. Sky, die Vampirkönigin. Sie starb, weil ihre Mörder zu große Angst vor ihrer sexuellen Ungestümheit hatten, um sie am Leben zu lassen.
Drei skalpierte junge Mädchen. In der Öffentlichkeit wurde von Voodoo und Fetischismus geredet und vor allem von der eiskalten Brutalität der Verbrechen, aber Solanka dachte lieber über den Tod des Herzens nach. Diese jungen Mädchen, die es so verzweifelt nach Verlangen verlangte, hatten es nur im äußersten Extrem des menschlichen Sexverhaltens finden können. Und diese drei jungen Männer, für welche die Liebe zu einer Frage von Gewalt und Besitz geworden war, von antun und angetan werden, waren bis an die Grenze zwischen Liebe und Tod vorgedrungen, und ihre Wut hatte sie verwischt; diese Wut, die sie nicht artikulieren konnten, die erwachsen war aus dem, was sie, die so vieles hatten, niemals zu erwerben vermochten: Genügsamkeit. Normalität. Echtes Leben.
In tausend, zehntausend, hunderttausend von Entsetzen erfüllten Gesprächen, die wie auf Gestank reagierende Fliegen um die Toten summten, diskutierte die Stadt die Morde bis ins kleinste Detail. Sie haben einer des anderen Freundin ermordet! Lauren Klein war von Medford zu einem letzten großen Abend in der City ausgeführt worden.
Sie hatte ihn, wie es geplant worden war, wegen einer bewußt provozierten Auseinandersetzung gegen Ende des Abends nach Hause geschickt. Kurz darauf hatte er sie angerufen, weil er angeblich gleich um die Ecke einen Verkehrsunfall gehabt habe. Sie lief hinunter, um ihm zu helfen, fand seinen alten Bentley jedoch unbeschädigt und mit offener Beifahrertür. Arme Kleine. Sie dachte, er wolle sich entschuldigen. Verärgert über die Irreführung, doch keineswegs beunruhigt, stieg sie ein und wurde von Andriessen und Marsalis mehrfach auf den Kopf geschlagen, während Medford in einer nahen Bar Margaritas trank und lauthals verkündete, er ertränke seinen Kummer, weil sein Miststück von Freundin nicht rüberkommen wolle, was den Barkeeper veranlassen sollte, ihn zu bitten, den Mund zu halten oder zu verschwinden, so daß er sicher sein konnte, daß man sich an ihn erinnerte. Und dann das Skalpieren. Sie mußten Plastikplanen ausgelegt haben, damit der Wagen nicht verschmutzt wurde. Und der Leichnam wurde wie Müll einfach auf die Straße geworfen. Genauso gingen sie auch bei Belinda Candell vor.
Bei Sky dagegen war es anders. Wie es ihre Art war, ergriff sie die Initiative und teilte Bradley Marsalis bei ihrem letzten Abendessen flüsternd ihre Pläne für den Abend mit. Heute nicht, sagte er, und sie zuckte die Achseln. »Okay, ich werde Stash oder Club anrufen und sehen, ob die Lust auf ein bißchen Spaß haben.« Wütend, beleidigt, aber verpflichtet, sich an den Spielplan zu halten, verabschiedete Brad sich unten an der Lobbytür von ihr und rief sie ein paar Minuten später an. »Okay, du hast gewonnen«, sagte er, »aber nicht hier. Wir treffen uns im Zimmer.« (Das Zimmer war eine schalldichte Suite in einem Fünfsternehotel, das ganze Jahr vom S&M-Club für seine geräuschvolleren Mitglieder angemietet. Wie sich herausstellte, hatte Bradley Marsalis sie mehrere Tage zuvor gebucht und sich daher des geplanten Mordes schuldig gemacht.) Sky sollte das Zimmer niemals erreichen. Ein großer schwarzer 4x4 hielt neben ihr, und eine ihr bekannte Stimme sagte: »Hi, Prinzessin. Komm an Bord. Horse hat uns gebeten, einen kleinen Ausflug mit dir zu machen.« Zwanzig, neunzehn, neunzehn, zählte Solanka. Zusammen waren sie gerade drei Jahre älter als er.
Und was war mit Jack Rhinehart, der ein Dutzend Kriege überlebt hatte, nur um in Tribeca eines elenden Todes zu sterben, der so klug über so viel Wichtiges und so elegant über vieles geschrieben hatte, das nicht wichtig war, und dessen letzte Worte bewußt oder notwendigerweise sowohl ergreifend als auch albern gewesen waren? Jacks Story war ebenfalls in aller Munde. Der Diebstahl der Flinte durch Horse Marsalis. Jacks Einladung in den S&M-Club zu seiner Einführungszeremonie. Du hast’s geschafft, Mann. Du bist drin. Selbst als sie am Spassky Grain Building eintrafen, hatte Rhinehart keine Ahnung, daß er dem Tode nahe war. Er dachte vermutlich an die Orgie in Eyes Wide Shut und stellte sich nackte, maskierte Mädchen auf Podien vor, die auf den Hieb seiner köstlichen Peitsche warteten. Solanka weinte jetzt. Er hörte, wie die Killer darauf bestanden, daß Rhinehart einen randvollen Krug Jack Daniels mit Coke auf ex trinken müsse, das Lieblingsgetränk der verwöhnten Kids. Er hörte den Befehl, sich im Namen des Clubs auszuziehen und seine Unterhose umgekehrt anzuziehen. Als würden ihm selbst die Augen verbunden, spürte Solanka die Binde, die sie bei Jack benutzt (und später entfernt) hatten. Seine Tränen durchtränkten die imaginäre Seide. Okay, Jack, bist du bereit, das wird dich umhauen. - Was ist los, Jungs, was soll das? - Mach einfach den Mund auf, Jack. Hast du dir die Zähne geputzt, wie wir es dir gesagt haben? Gut gemacht. Sag Ahhh, Jack. Das wird dich umhauen, Herzchen. Wie bedrückend einfach es gewesen war, diesen guten, schwachen Mann in den Tod zu locken. Wie bereitwillig er in den eigenen Leichenwagen stieg, um seine letzte, kurze Fahrt anzutreten. Lord, rock my soul, sang die Sängerin. Leb wohl, Jack, sagte Solanka lautlos zu seinem Freund. Geh nach Hause. Ich werde dich anrufen.
Neela nahm Malik mit in die Bedford Street, öffnete eine Flasche Rotwein, zog die Vorhänge zu, zündete Duftkerzen an und wählte respektlos eine CD mit Bollywood-Song-Classics aus den Fünfzigern und frühen Sechzigern - Musik aus seiner verbotenen Vergangenheit. Das war ein Aspekt ihrer profunden emotionalen Weisheit. Bei allem, was mit Gefühlen zu tun hatte, wußte Neela Mahendra, was wirken würde. Kabhi meri gali aaya karó. Der anrührend romantische Song schwebte durch den verdunkelten Raum. Komm herauf und besuch mich doch mal. Seit sie die Grabstelle verlassen hatten, war zwischen ihnen kein Wort gewechselt worden. Sie zog ihn auf einen mit Kissen bedeckten Teppich hinab und bettete seinen Kopf zwischen ihre Brüste, erinnerte ihn wortlos daran, daß es selbst in der Trauer noch ein wenig Glück gebe.
Sie sprach von ihrer Schönheit, als existiere diese ein Stückchen von ihr getrennt. Sie hatte sich einfach ergeben. Sie war nicht das Ergebnis von etwas, das sie getan hatte. Sie tat sich nichts darauf zugute, war dankbar für die Gabe, die sie erhalten hatte, pflegte sie gut, betrachtete sich jedoch vor allem als eine körperlose Entität, die hinter den Augen dieses außergewöhnlichen Außerirdischen, ihres Körpers, lebte: durch dessen große Augen blickte, seine langen Gliedmaßen bewegte und ihr Glück nicht ganz begreifen konnte. Ihre Wirkung auf die Umgebung - die abgestürzten Fensterputzer, die bisweilen mit Eimern auf dem Kopf breitbeinig auf den Bürgersteigen saßen, die schleudernden Autos, die Gefährdung der Hackebeil schwingenden Schlachter, wenn sie Fleisch einkaufen wollte - war ein Phänomen, dessen Folgen ihr trotz ihrer vorgetäuschten Sorglosigkeit eindeutig klar waren. Sie vermochte die Wirkung bis zu einem gewissen Grad zu steuern. »Sie weiß nicht, wie sie das abstellen soll«, hatte Jack gesagt, und das traf zu, aber durch weite Kleidung (die sie haßte) und breitrandige Hüte (die sie liebte, weil sie die Sonne haßte) konnte sie sie herunterspielen. Und noch eindrucksvoller: Sie konnte die Reaktion der anderen auf sich verstärken, indem sie die Länge ihrer Schritte, die Neigung ihres Kinns, den Ausdruck ihres Mundes und ihrer Stimme um winzige Grade veränderte. Bei maximaler Intensität drohte sie ganze Polizeireviere in Katastrophengebiete zu verwandeln, und Solanka mußte sie bitten, damit aufzuhören, nicht zuletzt wegen der Wirkung auf den Zustand seines eigenen Körpers und Verstandes. Sie liebte Komplimente, beschrieb sich selbst als pflegeintensives Mädchen und gab gelegentlich bereitwillig zu, daß diese Teilung ihrer Person in Form und Inhalt eine nützliche Erfindung war. Die Bezeichnung ihres sexuellen Ichs als die Andere die in Abständen herauskam, um auf die Pirsch zu gehen, und sich nicht daran hindern ließ, war eine kluge List, der Trick eines schüchternen Menschen, sich als extravertiert hinzustellen. So konnte sie den Lohn ihrer außerordentlichen erotischen Hingabe einheimsen, ohne von der Unbeholfenheit gelähmt zu werden, die sie als stotterndes junges Mädchen geplagt hatte. Zu klug, um offen von dem starken Gefühl für Recht und Unrecht zu sprechen, das auf subtile Weise all ihre Handlungen bestimmte, zog sie es vor, die Comic-Sexbombe Jessica Rabbit zu zitieren. »Ich bin nicht schlecht«, schnurrte sie gern bescheiden. »Man hat mich nur so gezeichnet.«
Sie hielt ihn umschlungen. Der Kontrast zu der Liaison mit Mila war auffallend. Bei Mila hatte Solanka sich der kranken Verlockung des Unaussprechlichen, des Unerlaubten hingegeben, während bei Neela, wenn sie ihn umschlang, das Gegenteil geschah und alles aussprechlich war und ausgesprochen wurde, alles erlaubt war und erlaubt wurde. Dies war keine Kind-Frau, und was er mit ihr zusammen entdeckte, war die Freude der Erwachsenen an nicht verbotener Liebe. Die Faszination, die Mila auf ihn ausübte, betrachtete er jetzt als Schwäche; diese neue Verbindung erschien ihm als Stärke. Mila hatte ihn beschuldigt, ein Optimist zu sein, und hatte recht. Neela war die Rechtfertigung dieses Optimismus. Und, jawohl, er war Mila dankbar dafür, daß sie den Schlüssel zum Tor seiner Phantasie gefunden hatte. Aber wenn Mila Milo das Schleusentor geöffnet hatte, war Neela Mahendra die Wasserflut.
In Neelas Armen spürte Solanka, wie er sich zu ändern begann, spürte, wie die inneren Dämonen, die er so sehr fürchtete, tagtäglich schwächer wurden, spürte, wie der unberechenbare Jähzorn der wunderbaren Berechenbarkeit der neuen Liebe wich. Packt eure Koffer, Furien, dachte er, ihr wohnt nicht mehr in diesem Haus. Wenn er recht hatte und der Ursprung der Wut in den sich anhäufenden Enttäuschungen des Lebens lag, dann hatte er das Gegenmittel gefunden, welches das Gift in sein Gegenteil verwandelte. Denn furia konnte auch Ekstase sein, und Neelas Liebe war der Stein der Weisen, der die verwandelnde Alchimie ermöglichte. Wut erwuchs aus Verzweiflung: Neela aber war die erfüllte Hoffnung.
Die Tür zu seiner Vergangenheit blieb geschlossen, und sie hatte soviel Takt, vorerst noch nicht daran zu rütteln. Ihr Bedürfnis nach einer gewissen persönlichen und emotionalen Abschottung war beträchtlich. Nach jener ersten Nacht in einem Hotelzimmer hatte sie darauf bestanden, für ihre Begegnungen ihr eigenes Bett zu benutzen, hatte ihm aber klargemacht, daß er nicht über Nacht bleiben durfte. Im Schlaf wurde sie zwar von Albträumen heimgesucht, lehnte es aber ab, sich von ihm trösten zu lassen. Sie zog es vor, ihre Traumgestalten allein zu bekämpfen und am Ende eines jeden Nachtkrieges langsam und definitiv allein zu erwachen. Da ihm nichts anderes übrigblieb, akzeptierte Solanka ihre Bedingungen und gewöhnte sich allmählich daran, die Müdigkeit zu bekämpfen, die ihn nach dem Liebesakt normalerweise überfiel. Er sagte sich, so sei es auch für ihn wohl besser. Schließlich war er auf einmal ein überaus beschäftigter Mann.
Er lernte sie jeden Tag besser kennen, erforschte sie, als sei sie eine neue Stadt, in der er eine Wohnung gemietet hatte, die er eines Tages zu kaufen hoffte. Mit dieser Vorstellung war sie allerdings nicht so ganz einverstanden. Genau wie er war sie von Stimmungen abhängig, und er wurde ihr persönlicher Meteorologe, der ihr Wetter voraussagte, der die Dauer ihrer inneren Stürme und ihrer Nebenwirkungen in Form von tosenden Ungewittern an den goldenen Stränden ihrer Liebe studierte. Manchmal gefiel es ihr, in so mikroskopischen Details beobachtet zu werden, liebte sie es, ohne Worte verstanden zu werden, ihre Bedürfnisse erfüllt zu bekommen, ohne daß sie sie aussprechen mußte. Dann wieder ärgerte sie sich darüber. Dann sah er ihre umwölkte Stirn und fragte: »Was hast du?« Woraufhin sie ihm einen gereizten Blick zuwarf und antwortete: »Ach, nichts. Verdammt noch mal! Du glaubst, du könntest meine Gedanken lesen, aber du liegst oft weit daneben. Wenn es etwas zu sagen gibt, werde ich es sagen. Du solltest dein Glück nicht herausfordern.« Sie hatte viel Mühe darauf verwandt, den Eindruck einer starken Frau zu machen, und wollte nicht, daß der Mann, den sie liebte, ihre Schwäche erkannte.
Medikamente waren, wie er schon bald entdeckte, auch für Neela ein Problem, und das war wieder etwas, das sie gemeinsam hatten: Sie waren entschlossen, ihre Dämonen zu besiegen, ohne dem anderen dabei eine Szene zu machen. Deswegen zog sie sich, wenn ihr elend zumute war, wenn sie mit sich selbst kämpfen mußte, von ihm zurück, wollte ihn weder sehen noch ihm erklären, warum, und erwartete von ihm Verständnis, erwartete, daß er reif genug war, um sie in Ruhe zu lassen; kurz gesagt, er mußte sich zum erstenmal in seinem Leben seinem Alter entsprechend verhalten. Sie war eine äußerst nervöse Frau und räumte zuweilen ein, daß es ein Albtraum sein müsse, mit ihr zusammenzuleben, worauf er erwiderte: »Ja, aber es gibt Entschädigungen.« »Hoffentlich sind sie groß genug«, gab sie zurück und machte ein aufrichtig besorgtes Gesicht. »Wenn sie das nicht wären, müßte ich ja wohl ziemlich dämlich sein, nicht wahr?« Er grinste, und sie entspannte sich und rückte näher. »Das stimmt«, tröstete sie sich selbst. »Und das bist du nicht.«
Was ihren Körper betraf, so gab sie sich überaus locker und fühlte sich nackt sogar wohler als bekleidet. Mehr als einmal mußte er sie ermahnen, sich anzuziehen, wenn jemand an ihre Tür klopfte. Aber sie wollte unbedingt ein paar Geheimnisse hüten, um ihr Mysterium zu bewahren. Daß sie häufig in sich gekehrt war, daß sie vor zu aufdringlichen Blicken zurückschreckte, hatte mit diesem sehr unamerikanischen - diesem eindeutig englischen - Bewußtsein vom Wert der Zurückhaltung zu tun. Sie behauptete, es habe nichts mit der Frage zu tun, ob sie ihn liebe oder nicht, was sie auf eine tiefe und verwirrende Art ja tat. »Hör zu, es ist ganz einfach«, antwortete sie, als er sie fragte, warum. »Du magst mit deinen Puppen und Websites und so ja äußerst kreativ sein, aber soweit es mich angeht, besteht deine einzige Aufgabe darin, daß du in mein Bett kommst, wann immer ich es dir befehle, und mir jeden Wunsch von den Augen abliest.« Und Professor Malik Solanka, der sein Leben lang ein Sexobjekt hatte sein wollen, war ob dieses sehr autoritativen Diktums unsinnigerweise höchst erfreut.
Nach der Liebe steckte sie sich eine Zigarette an und setzte sich splitternackt ans Fenster, um zu rauchen, weil sie wußte, wie sehr er Tabakrauch haßte. Glückliche Nachbarn, dachte er, sie aber lehnte derartige Erwägungen als bourgeois und weit unter ihrem Niveau ab. Mit ausdrucksloser Miene kehrte sie zu der Frage zurück, die er gestellt hatte. »Das Problem mit dir ist«, erläuterte sie, »daß du ein Herz hast. Das ist heutzutage eine sehr seltene Eigenschaft bei einem Mann. Zum Beispiel Babur: ein erstaunlicher Mann, brillant, wirklich, aber total verliebt in die Revolution. Die Menschen sind nichts als Figuren in seinem Spiel. Bei den meisten anderen Männern ist es Status, Geld, Macht, Golf, Ego. Zum Beispiel Jack.« Solanka haßte diese Lobrede auf den gut gebauten Fahnenschwinger vom Washington Square, empfand ein leichtes Schuldbewußtsein bei dem positiven Vergleich mit seinem toten Freund und sagte das auch. »Siehst du?« staunte sie. »Du hast nicht nur Gefühle, du kannst tatsächlich darüber reden. Wow! Endlich ein Mann, bei dem zu bleiben sich wirklich lohnt.« Solanka hatte das Gefühl, daß sie sich irgendwie über ihn mokierte, vermochte aber nicht so recht zu sagen, wo dabei der Witz war. Da er sich töricht vorkam, konzentrierte er sich auf ihren liebevollen Ton. Liebestrank Numero neun. Das war der Balsam für seine Seele.
In der Wohnung an der Bedford Street war Indien in der übertriebenen Manier der Diaspora allüberall präsent: die filmi-Musik, die Kerzen und das Räucherwerk, der Krischna-und-Milchmädchen-Kalender, die Dhurries auf dem Boden, das Bild von der Company School, die Hookah-Pfeife, die sich wie eine ausgestopfte grüne Schlange auf dem Bücherregal ringelte. Neelas Alter ego in Bombay, sinnierte Solanka, während er sich anzog, würde vermutlich zur stark verwestlichten, kalifornisch-minimalistischen Schlichtheit tendieren ... aber lassen wir Bombay. Neela zog sich ebenfalls an, wählte ihr aerodynamischstes, supereng anliegendes schwarzes Kleid aus einem namenlosen Raumzeitalter-Material. Sie mußte, obwohl es schon spät war, ins Büro. Die Vorproduktionsphase der Lilliput-Dokumentation war fast beendet, und sie würde bald ans andere Ende der Welt aufbrechen. Es gab noch sehr viel zu tun. Gewöhn dich dran, dachte Solanka. Der Grund für ihre Abwesenheit ist sowohl beruflicher als auch persönlicher Art. Mit dieser Frau Zusammenleben heißt auch lernen, ohne sie zu leben. Sie schnürte ihre weißen Straßen-Flyer - Turnschuhe mit ausfahrbaren, in die Sohlen eingearbeiteten Rädern - und schoß davon, daß ihr langer schwarzer Pferdeschwanz flatterte. Solanka stand auf dem Bürgersteig und sah ihr nach. Die Wirkung, stellte er fest, als das übliche Chaos einsetzte, funktioniert auch im Dunkeln.
Er ging zu FAO Schwarz und schickte Asmaan per Post einen Elefanten. Bald würden die letzten Reste der alten Wut durch das neue Glück vertrieben worden sein, und er würde sich sicher genug fühlen, um ins Leben seines Sohnes zurückzukehren. Dazu würde er jedoch Eleanor gegenübertreten und sie mit der Tatsache konfrontieren müssen, die zu akzeptieren sie sich immer noch weigerte. Er würde ihr die Endgültigkeit wie ein Messer in das gute, liebende Herz stoßen müssen.
Er rief an, um Asmaan mitzuteilen, daß es eine Überraschung geben würde. Große Aufregung. »Was ist da drin? Was sagt es? Was wird Morgen sagen?« Eleanor und Asmaan hatten mit den Franzens in Florenz Urlaub gemacht. »Da gibt es teinen Strand. Nein. Es gibt einen Fluß, aber in dem tonnte ich nicht schwimmen. Vielleicht tomme ich wieder, wenn ich größer bin, und schwimme in dem Fluß. Ich hatte keine Angst, Daddy. Deswegen haben Morgen und Lin gerufen. Mummy nicht. Mummy hat nicht gerufen. Das glaube ich jedenfalls. Keine Angst, Morgen, hat sie gesagt. Lin ist so nett. Mummy ist auch so nett. Das finde ich jedenfalls.«
Er war ein bißchen zum Angsthaben. Morgen. Ein ganz kleines bißchen. Wollte er mich zum Lachen bringen? Bestimmt. »Weißt du was, Daddy? Was er gesagt hat? Wir sind zu den Statuen gegangen, aber Lin tonnte nicht mitkommen. Deswegen hat sie geweint. Sie ist zu Hause geblieben. Nicht bei uns zu Hause, aber doch. Ai caramba.« Das hieß, wie Solanka erst nach einem Moment begriff, I can’t remember, ich kann mich nicht erinnern. »Da sind wir geblieben. Ja. Es war sehr schön. Ich hatte mein eigenes Zimmer. Das fand ich schön. Ich hab einen Bogen mit einem Pfeil. Ich mag dich, Daddy, tommst du heute nach Hause? Samstag, Dienstag? Das solltest du. Bye.«
Eleanor übernahm. »Ja, es war schwierig. Aber Florenz war zauberhaft. Wie geht’s dir?« Er überlegte eine Minute. »Gut«, sagte er dann. »Mir geht’s gut.« Sie überlegte eine Minute. »Du solltest ihm nicht versprechen, daß du kommst, wenn du dann doch nicht kommst«, sagte sie, nach Informationen angelnd. »Was ist los?« erkundigte er sich, um das Thema zu wechseln. »Was ist mit dir los?« gab sie zurück. Das genügte. Er hatte bereits die verräterische Falschheit in ihrer Stimme gehört, und sie in der seinen. Aus dem Gleichgewicht gebracht von dem, was er gerade erst begriffen hatte, machte Solanka den Fehler, sich in Neelas Dialog zu flüchten: »Was zum Teufel! Du glaubst, du kannst meine Gedanken lesen, aber du liegst oft weit daneben. Wenn etwas gesagt werden muß, werde ich es sagen. Fordere dein Glück nicht heraus.« Bei Neela hatte das echt geklungen, aus seinem Mund wirkte es jedoch nur wie hohles Gerede. Eleanor zeigte sich verachtungsvoll belustigt. »Was zum Teufel?« wollte sie wissen. »Seit wann benutzt du Ronald Reagans Redewendungen?« Ihr Verhalten wurde auf einmal schärfer, gereizter, unversöhnlich. Morgen und Lin, dachte Solanka. Morgen, der sich die Mühe gemacht hatte, ihn anzurufen und zu beschimpfen, weil er seine Frau verlassen hatte, die ihm wiederum bestätigt hatte, daß sein Verhalten sie und ihren Ehemann enger zusammengeschweißt hatte denn jemals zuvor. Hm-hm. Morgen, Eleanor und Lin in Florenz. Deswegen hat sie geweint. Asmaans Worte ließen keinen Zweifel. Sie hat geweint. Warum hat sie geweint, Morgen? Eleanor? Würdet ihr mir das bitte erklären? Würdest du mir bitte erklären, Eleanor, warum dein neuer Liebhaber und seine Frau sich in Gegenwart meines Sohns gestritten haben?
Die Wut verließ ihn, aber alle anderen schienen extrem schlechter Laune zu sein. Mila zog um. Eddie hatte bei einer Firma namens Van-Go einen Möbelwagen gemietet und schleppte klaglos all ihre Siebensachen aus dem dritten Stock herunter, während sie auf der Straße stand, eine Zigarette rauchte, Irish Whiskey aus der Flasche trank und meckerte. Ihre Haare waren jetzt rot und stachelähnlicher denn je: sogar ihr Kopf wirkte zornig. »Was glotzt du so?« rief sie zu Solanka hinauf, als sie merkte, daß er sie aus dem Fenster seines Arbeitszimmers im ersten Stock heraus beobachtete. »Was immer du von mir willst, Professor, es ist nicht zu haben. Kapiert? Ich bin verlobt und werde heiraten, und glaube mir, du willst bestimmt nicht, daß mein Verlobter wütend wird.« Wider besseres Wissen - denn sie hatte schon fast die ganze Flasche Jameson’s gekippt - ging er auf die Straße hinunter, um mit ihr zu sprechen. Sie zog nach Brooklyn, zog mit Eddie zusammen in eine kleine Wohnung in Park Slope, wo die Webspyders ein Büro aufgemacht hatten. Die Site der Marionettenkönige stand kurz vor dem Start, und alles lief gut. »Keine Sorge, Professor«, versicherte Mila ganz leicht lallend. »Die Geschäfte florieren. Nur dich kann ich ganz einfach nicht ausstehen.«
Eddie Ford kam mit einem Computermonitor die Vortreppe herunter. Als er Solanka sah, zog er eine dramatisch finstere Miene. Das war die Szene, die er seit so langer Zeit spielen wollte. »Sie will nicht mit Ihnen reden, Mann«, sagte er und setzte den Monitor ab. »Hab ich mich klar genug ausgedrückt? Miss Milo hat verdammt keine Lust auf Gespräche. Kapiert? Wenn Sie sie sehen wollen, rufen Sie im Büro an und bitten Sie um einen Geschäftstermin. Schicken Sie uns ’ne E-Mail. Sollten Sie’s wagen und in ihrer Privatwohnung aufkreuzen, kriegen Sie’s mit mir zu tun. Sie und die Lady haben nichts mehr miteinander zu tun. Sie sind, verdammt noch mal, endgültig getrennt. Wenn Sie mich fragen, ist sie ’n Engel, daß sie überhaupt noch geschäftlich mit Ihnen verkehrt. Ich dagegen, ich bin nicht so sanftmütig. Ich wünsche mir nichts als fünf Minuten. Dreihundert Sekunden allein mit Ihnen würden mir, verdammt noch mal, reichen. Jawoll, Sir. Können Sie mir folgen, Professor? Bin ich auf Ihrer Frequenz? Klingelt’s bei Ihnen?« Solanka neigte still den Kopf und wandte sich zum Gehen. »Sie sind ein beschissen trauriger und kranker alter Mann.« Und was hat sie dir erzählt, Eddie, über das, was sie mir anzutun versucht hat? Ach, laß nur. »Ach, Professor.« Im Korridor vor seiner Wohnungstür stieß er auf Schlink, den Klempner; oder vielmehr, Schlink wartete auf ihn, schwenkte ein Dokument und sprudelte seine Worte nur so heraus. »Alles in Ordnung in der Wohnung? Keine Toilettenprobleme? So, so. Was Schlink repariert, bleibt repariert.« Er nickte und grinste wie verrückt. »Vielleicht erinnern Sie sich nicht mehr«, fuhr er dann fort. »Ich war offen zu Ihnen, eh? Meine Lebensgeschichte hab ich Ihnen erzählt, umsonst. Und Sie haben einen grausamen Witz daraus gemacht. Vielleicht ein Film, haben Sie gesagt, könnte aus meiner kleinen Erzählung werden. Das haben Sie nicht ernst gemeint. Sie haben nur einen Spaß gemacht, da bin ich sicher. So von oben herab, Professor, so herablassend, Sie Stück Scheiße.« Solanka erschrak. »Jawohl«, sagte Schlink nachdrücklich. »Ich nehme mir die Freiheit, das zu sagen. Ich bin extra hergekommen, um es Ihnen zu sagen. Denn sehen Sie, Professor, ich habe Ihren Rat befolgt, diesen Rat, der für Sie nur ein dummer Gag war, aber Gott hat meine Mühe belohnt. Ein Filmvertrag! Sehen Sie selbst, hier steht es schwarz auf weiß. Sehen Sie, der Name des Studios. Sehen Sie, das Honorar. Jawohl, eine Komödie, stellen Sie sich vor. Nach einem ganzen Leben ohne Humor werde ich die Leute zum Lachen bringen. Billy Crystal in der Titelrolle, er hat schon zugesagt, er findet die Rolle großartig. Ein todsicherer Hit, eh? Premiere nächstes Frühjahr. Jede Menge Werbung. Ein Wahnsinn. Großes Eröffnungswochenende. Warten Sie’s nur ab. Okay, bis dann, Professor Arschloch, und vielen Dank für den Titel. Jewboat. HA, ha, ha, HA.«